Andacht- und Predigt Archiv
Zum Sonntag: Uralte Krankheit
Veröffentlicht am Sa, 05.03.2022
von Georg - Pfr. i. R. Schützler
In den letzten Tagen bin ich über einen Satz von Hanns Dieter Hüsch gestolpert, der mich nicht mehr losgelassen hat: „Immer geht es um das ewige Thema mit Variationen, um die uralte Krankheit: Belehrung oder Anteilnahme, Verurteilung oder Liebe, Zorn oder Zärtlichkeit, Rache oder Versöhnung, Strafe oder Trost.“ Als wenn wir Menschen aufgeteilt sind in zwei verfeindete Lager. Die eine Seite steht für Belehrung, Verurteilung, Zorn, Rache und Strafe. Die andere Seite für Anteilnahme, Liebe, Zärtlichkeit, Versöhnung und Trost. Die Letzteren werden verhöhnt als Gutmenschen, die sich nicht der harten Wirklichkeit stellen wollen. Die anderen, das sind die Hartmenschen, die für die „klare Kante“ stehen. Solange sich beide Lager die Waage hielten, schien das gesellschaftliche Klima einigermaßen gut zu funktionieren. Doch z.Z. scheint die Waage zu kippen. Härte und „klare Kante“ dominieren den Zeitgeist. Wer auf Versöhnung und Verständnis setzt, scheint von Gestern zu sein. Interessanterweise steht dem eine uralte religiöse Weisheit entgegen: Ziehe erst den Balken aus deinem Auge, bevor du deiner Schwester oder deinem Bruder einen Splitter aus dem Auge entfernen willst. Dem Himmel scheint unsere Neigung zur Feindschaft, zur Lagerbildung gut bekannt zu sein. Doch ist es nicht in der Tat sehr sinnvoll, die Sehbehinderungen, die ideologischen Balken, aus dem eigenen Auge zu entfernen, um den oder die Mitmenschen wieder als Mitmenschen zu entdecken, die oft auch in der eigenen Seele den Kampf zwischen beiden Lagern austragen. So könnte das gesellschaftliche Klima wieder befriedet werden, was wir so bitter nötig haben.
Georg Schützler, bis 2016 Pfarrer an der Friedenskirche in Ludwigsburg
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