Andacht- und Predigt Archiv
Zum Sonntag: Die Antwort fällt leicht
Veröffentlicht am Sa, 02.10.2021
von Martin Merdes
Pfarrer, Evang. Kirchengemeinde Asperg
„Was ist dein Lieblingsessen?“, „Was ist dein Lieblingstier?“ … - so und ähnlich lauten die Fragen in den Freundschaftsbüchern, die ich gelegentlich von Grundschülern überreicht bekomme mit der Bitte, meine Antworten reinzuschreiben. Und während ich schreibe, ahne ich, dass meinen Eintragungen sicher neugierig gelesen werden – so wie ich natürlich auch neugierig nachlese, wie sich die Kollegin outet, dass sie in ihrer Freizeit gern auf dem Sofa rumlümmelt oder der Kollege am liebsten Pizza verdrückt.
Die Freundschaftsbücher heutiger Tage haben eine lange Tradition. Sie gehen zurück auf Fragebögen, die Ende des 19. Jahrhunderts in England und Frankreich in den gehobenen Kreisen kursierten – mit recht persönlichen und intimen Fragen. Intime Geständnisse waren damals Mode und galten als romantischer Zuneigungsbeweis. „Geständnisalbum“ nannte man das auch. Der wohl bekannteste Fragebogen ist der, der vom französischen Schriftsteller Marcel Proust ausgefüllt wurde und auch noch heute von großen Zeitungen weiterpubliziert wird.
„Wo möchten Sie leben?“ lautet gleich eine der ersten Fragen dieses berühmten „Geständnisalbums“. Aber: ist das nun wirklich eine Frage, bei der man ein Geständnis ablegen muss? Eine intime Frage? In Ländern, in denen man wegen kritischer Äußerungen verschleppt wird, vergiftet oder im Gefängnis landet, wird man sich tatsächlich überlegen, wem man was antwortet. Wenn Ihnen aber, liebe Leserin und lieber Leser, die Beantwortung genauso leichtfällt wie die Frage nach Ihrem Lieblingsessen und Sie ohne Zögern sagen können, dass Sie gerne hier leben, in diesem Land, sollte das nicht Anlass sein, dafür immer wieder auch Gott zu danken?
Wenn morgen zum 31. Mal der Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird, ist dies zwar kein religiöser Feiertag. Aber dass wir in einem Rechtsstaat mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung leben, in Frieden, trotz mancher Herausforderungen relativ sicher, hat für uns Christen auch eine religiöse Dimension. Für diese sehr elementare Erfahrung gibt es in unserer Glaubenssprache ein zentrales Wort, das uns auch in die Tiefen unserer Spiritualität hineinführt, und das ist: „Gnade“. So vieles ist alles andere als selbstverständlich, verdanken wir nicht uns, sondern wir erleben es als Geschenk Gottes, eben: Gnade. „Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“, sagt darum der 103. Psalm und fährt dann fort: „… der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit…“
„Wo möchten Sie leben?“ Danken wir für Gottes Gnade, dass wir darauf ganz offen antworten können: „Hier!“
Zur ÜbersichtDie wöchentlichen Andachten
evangelischer bzw. ökume-
nischer Autorinnen und Autoren (Angedacht KWZ
und Zum Sonntag, LKZ)
werden zeitnah in diesem
Archiv erfasst.