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Vergesst die Kinder nicht – zum Gedenken an die Kriegskinder
Veröffentlicht am So, 13.11.2005
von Andreas Gruhn
Ansprache bei der Gedenkfeier zum Volkstrauertag am 13.11.2005 in Ludwigsburg Poppenweiler
Liebe Gäste der Feierstunde zum Volkstrauertag,
der Sonntag vor dem Totensonntag wird seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland als Volkstrauertag begangen. Geblieben ist der Tag des Gedenkens, verändert haben sich Besucherinnen und Besucher. Viele aus der Generation der aktiven Kriegsteilnehmer sind heute nicht mehr unter uns, weil die Anzahl, der noch unter uns Lebenden, stetig geringer wird. Die jüngsten Rekruten im II. WK stammten aus den Jahrgängen 1928 und davor. Sie sind heute älter als 77 Jahre und viele sind bereits verstorben. Jüngere Generationen zählen heute zu den Besucherinnen und Besuchern der Feierstunden in unserem Land anlässlich des Volkstrauertages. So auch in Poppenweiler.
Verändert haben sich nicht weniger die Bezugspunkte und die Anlässe des Trauerns und Gedenkens. Aus meinem Blickwinkel nehme dabei folgende Veränderungen wahr. Standen doch zum Beginn der Aufnahme des Volkstrauertages in den 50er und den folgenden Jahren die Trauer um den im Krieg verlorenen Freund und Kameraden, die eigenen schmerzhaften Kriegserlebnisse, der Verlust von Familienangehörigen, der Verlust von leiblicher Unversehrtheit und besonders auch der Verlust der Heimat nach der Flucht im Mittelpunkt des Gedenkens.
Später wurde das in den 50er Jahren ausgesprochene „Nie wieder Krieg“ aufgegriffen und der Volkstrauertag diente einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Einsatz von Gewalt und der Präsenz von Militär.
Zunehmend häufiger wurde in vergangenen Jahren bei den Ansprachen zum Volkstrauertag der gesamten durch den Nationalsozialismus hervorgerufenen Gewalt gedacht und um die Opfer getrauert. Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle, politisch und religiös Verfolgte sowie alle sonst noch von den Nationalsozialisten zu minderwertigen Menschen Erklärten erhielten hier im Gedenken einen Platz.
In diesem Jahr wird an das Kriegsende vor 60 Jahren am 8. Mai gedacht. Zahlreiche Reportagen waren zu sehen und zu lesen. In der Beilage zur Wochenzeitung „Die Zeit“ schrieb ihr langjähriger Chefredakteur ein Essay mit dem Titel: „Mein Kriegsende“. Theo Sommer ist Jahrgang 1930. Damit gehört er einer Generation an, die den Krieg erleben musste, jedoch nicht mehr selber aktiv an Kriegshandlungen beteiligt war. Die sogenannten „weißen Jahrgänge“ bis zum Geburtsjahr 1945 sind darunter zu zählen. Sie sind heute zwischen 60 und 75 Jahre alt. Sie waren Kinder zur Zeit als in Europa der Krieg gewütet hatte. Sie wurden nicht nur in den Jahren nach dem Krieg, sie wurden auch bisher als Menschen, die Opfer waren, als Menschen, die Trauer tragen beim Gedenken am Volkstrauertag nicht oder nur kaum bedacht. Ihnen möchte ich heute unsere Aufmerksamkeit schenken. Trifft doch auf sie das Sprichwort zu, das wir aus dem Buch des Propheten Hesekiel kennen, wo dieser ein in seiner Zeit kursierendes Wort zitiert: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“
Die „Kriegskinder“ waren zwischen neugeboren und fünfzehn Jahre alt, als die Gewalt ein Ende fand. Selber der Verantwortung für das Geschehen ledig, waren sie oft ohnmächtig Opfer des Treibens um sie herum. Und nach dem Krieg und viele Jahrzehnte noch standen sie erst einmal im Schatten ihrer Väter und Mütter. Mussten doch erst einmal sie ihre schmerzhaften Erlebnisse erzählen. Mussten die Männer von ihren Fronterlebnissen erzählen können, ihre Träume berichten, die sie nachts aus dem Schlaf rissen. Mussten die Mütter ihrer Angst und Not Ausdruck geben, die sie, wo immer sie auch waren, um das eigene Leben, das Leben ihrer Kinder und ihrer Angehörigen hatten. Aber was ein fünfjähriges Kind erlitten hatte, wer zollte dem in der Nachkriegszeit seine Aufmerksamkeit?
So berichtet eine Frau, heute 68 Jahre alt: „Mein Mann war damals bei Kriegsende 10 Jahre alt und kam aus Tilsit. Viele Jahre hat er nicht darüber gesprochen. Er wollte nichts davon hören. Er hatte ja auch beruflich immer viel zu tun als Steuerberater. Jetzt am Ende seines Berufslebens scheint er sich zu verändern. Er schaut sich alle Filme an, die jetzt gezeigt werden. Er nimmt alles in sich auf. Er lässt nichts aus und wir können langsam darüber reden. Auch über meine Erfahrungen. Ich war damals noch ein kleines Kind und erlebete den Bombenangriff auf Essen. Ich wurde in Tücher gehüllt und durch die brennende Straßen getragen. Ich habe bis heute eine unheimlich Angst vor Brand und Feuergefahr.“
Eine andere Frau erzählte ihre Erlebnisse aus Ostpreußen, deren Mutter sich entschlossen hatte dort zu bleiben. Sie sagt: „Als die Soldaten aus Russland kamen war es furchtbar. Sie wollten die Mutter vergewaltigen, aber wir haben uns als Kinder an sie gehängt und beschützt.“
Oder die Ehefrau eines Geburtstagsjubilars berichtet über die gemeinsame Reisepläne in der nahen Zukunft. Man kommt auf die Flugangst zu sprechen, unter der sie entsetzlich leide. Beim Nachjagen nach den Ursachen dieser Flugangst stell sich heraus, dass die Turbinengeräusche beim Startvorgang für sie genauso klingen wie im Krieg ankommende Granatgeschosse kurz vor dem Einschlag.
Die Kriegskinder mussten als Kinder und Jugendliche nicht nur während des Krieges, sie mussten auch nach dem Krieg funktionieren. Erst musste man alles dafür tun, um zu überleben. Danach galt es alle Anstrengung aufs Weiterleben zu konzentrieren. Und schließlich hatte die Kriegskindergeneration einen wesentlichen Beitrag zur Demokratisierung unserer Gesellschaft beigetragen. Waren es doch sie, die in den letzten Jahrzehnten die Politik in Gremien und Parteien begleitet, die in Kirchengemeinderäten und Vereinen die Leitung übernommen hatten.
Für das im Krieg Erlebte gab es aber wenig Zeit und keinen Raum. Die vorher genannten Berichte drücken das aus, welche traumatischen Erlebnisse es gab. Wer den Film „Das Wunder von Bern“ gesehen hat, bekommt etwas von der emotionalen Kühle aber auch der gegenseitigen Hilflosigkeit in den Familien zu spüren. Da kommt der Vater nach Jahren aus der Gefangenschaft heim und ist doch für seine Kinder ein Fremder, der das bis dahin ganz gut funktionierende Familienleben stört. Der Ehefrau fremd geworden, dem ältesten Sohn ein Konkurrent und dem jüngsten kann er nur schwer ein Vater sein. Eines Sonntagmittag gibt es überraschend Braten zum Essen. Als der Jüngste der Familie zu seinem Hasenstall kommt, in dem sein Hase lebt, dem er sein Herz stets ausschütten kann, ist dieser Stall leer.
Für die Gefühle der Kinder war in dieser spannungsvollen Zeit, mit sozialem und wirtschaftlichem Druck, wenig Platz vorhanden.
Die damals Kinder waren, sind heute 60 Jahre und älter. Ihre Lebensleistung haben Sie in Familie, Kultur, Politik und Wirtschaft erbracht. Sie sind im Begriff in die Rente zu gehen oder befinden sich bereits darin. Jetzt, da das Leben bei vielen von ihnen ruhiger wird, erinnern sie sich alter Geschichten und unfertiger Erlebnisse. Das ist eine Chance nicht nur für die 60plus Generation, sondern eine Erfahrungsmöglichkeit für die Jüngeren mit. Wer wird mit 65 Jahren schon auf seine Kriegserlebnisse hin angesprochen? Man könnte sie ja bei einer Vereinsversammlung oder einem Familientreffen befragen. „Wo hast du den Krieg erlebt? Was hat sich dort ereignet? Hast du Menschen in der Zeit durch Tod verloren? Wenn ja, wen? Was ist mit deinen Eltern und Geschwistern geschehen?“
Wir könnten ja bei den anstehenden Familientreffen oder Weihnachtsfeiern die Gelegenheit nutzen, die Gespräche in dieser Richtung zu führen.
„Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“ Erlebtes kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden, Geschichte lässt sich nicht zurückdrehen. Das Geschehene ist Faktisch. Wir müssen uns ihm aber nicht schicksalhaft ergeben. Wir müssen nicht sagen: Das war halt so. Wir können antworten: Ja, es war so, aber erzähl mir, wie es war. Wer würde nicht, wenn er so gefragt würde, gerne erzählen?
Und ein zweites mahnt uns das Erinnern an die Kriegskinder. Kriegskinder wurden in den Jahren nach 1945 zu Millionen neu geboren. Glücklicher Weise nicht in Deutschland. An anderer Stelle dafür um so mehr. Und es hat sich ihre Not noch bis dahin gesteigert, dass sie als Soldatenkinder missbraucht werden. Kinder sind die schwächsten Teile einer Gesellschaft. Sie sind auf den Schutz ihrer Eltern oder anderen Verantwortlichen angewiesen. Oft wird diese Verantwortung nicht wahrgenommen. Meist sind sie diejenigen, die am stillen Leid weitertragen. Ihre Zähne werden Stumpf von den Trauben, die andere gegessen haben.
Wem es von den Kindern gelingt, die Flucht zu ergreifen und in einem westlichen Land Asyl zu erlangen, darf sich glücklich schätzen. Wer in einer sogenannten Traumatherapie die Schrecken des eigenen Erlebens bearbeiten kann, hat bessere Voraussetzungen, dem Leben wieder Freude und eine Zukunft abzugewinnen.
Die Erinnerung heute an die erlittene Gewalt der Kriegskindergeneration im II. Weltkrieg, mahnt uns nicht nur diese Generation sondern ebenso die heutige Kindergeneration nicht aus den Augen zu verlieren. Die einstigen wie die heutigen Kinder sollen einmal in Anlehnung an den Apostel Paulus sagen können: Das Alte ist vergangen, ein Neues ist geworden.
Ich danke allen für Ihre Aufmerksamkeit!
Andreas Gruhn, Pfarrer der evang. Kirchengemeinde Poppenweiler
Telefon: 07144/97136
E-Mail: pfa.poppeneiler(a)evk-lb.de
Die Ansprache entstand durch die Anregung zweier Artikel aus dem Deutschen Pfarrerblatt
Frank Weber, Die Generation der Kriegskinder, DtPfrBl 103 Heft 5 (2003), S. 227-231
Thomas Zippert, Vergesst die Kriegskinder nicht!, DtPfrBl105 Heft 10 (2005), S. 507-509
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