Gott in die Augen schauen
Veröffentlicht am Fr, 13.11.2020
von Martin Mohns
Pfarrer, Evang. Kirchengemeinde Kornwestheim - Pfarramt Thomaskirche
Er sah seine Not und wollte ihm helfen. Allerdings hatte der Soldat nichts dabei außer seinem Schwert und seinem Mantel. Kurzerhand teilte Martin seinen Mantel mit dem Schwert und gab dem Bettler die eine Hälfte.
Eine beeindruckende Geschichte. Da hat einer fast nichts und gibt trotzdem so viel. Beinahe täglich laufe ich an bettelnden Menschen vorbei. Dabei ist meine Reaktion sehr unterschiedlich. Manchmal denke ich: ich habe schon lange keinem Bettler mehr etwas gegeben. Dann krame ich ein bisschen Kleingeld heraus. Wenn ich kurz darauf wieder jemanden sehe, denke ich: ich habe ja erst vorhin etwas gegeben. Allen kann ich auch nicht helfen. Manche verkaufen eine Straßenzeitung oder machen Musik. Denen gebe ich lieber etwas. Denn ich denke: die geben sich Mühe und arbeiten. Manchmal gebe ich gar nichts und hoffe, dass sich andere darum kümmern.
Wie man es dreht und wendet: ich habe noch nie meinen halben Besitz für einen Bettler hergegeben. Auch nicht die Hälfte von dem, was ich in dem Moment dabei hatte. Und dann frage ich mich: ist das bisschen, was ich gebe, tatsächlich denen eine Hilfe, denen ich es gebe? Oder helfe ich in Wahrheit vor allem mir, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen?
Irgendwie scheint die Frage nicht ganz gerecht: wie viel muss ich geben, um zu zeigen, dass ich es ernst meine? Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Vielleicht ist sie aber auch gar nicht so wichtig. Vielleicht ist die wichtigste Frage: was können wir von Martin lernen?
Ich glaube, wir können folgendes lernen: Martin lässt sich anrühren. Er schaut nicht an dem Bettler vorbei und überlässt die Aufgabe nicht anderen, sondern sagt: ich bin gerade hier, also ist es meine Pflicht, zu helfen. Martin stellt sich auch gar nicht die Frage, wie viel er geben kann. Er handelt instinktiv. Aus dem Bauch heraus. Er sieht: ein Mensch ist in Not. Also helfe ich. So gut ich es gerade kann.
Am Ende wird berichtet, dass Jesus in Martins Traum erscheint. Er war der Bettler. So, wie es Jesus im Matthäus-Evangelium schon sagt: »Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« Das heißt: jedes Mal, wenn wir jemandem helfen, der auf Hilfe angewiesen ist, sind wir ganz nahe dran an Jesus. Wenn wir uns fragen: wo begegnet uns Gott in unserem Alltag? Dann sagt Jesus: genau dort, wo du jemandem zur Hilfe kommst. Wo du dich anrühren lässt und instinktiv für eine andere Person handelst. Da schaust du nicht nur einer anderen Person ins Gesicht. Da schaust du Gott selbst ins Gesicht.
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