Angedacht
Veröffentlicht am Fr, 23.03.2012
Die Wahl des Bundespräsidenten dominierte erwartungsgemäß die Berichterstattung am Montag dieser Woche. Bei einem der Fotos bleibe ich hängen – dieses Gesicht kenne ich:
Mevlüde Genc. Sie war Wahlfrau aus Nordrhein-Westfalen.
Ihr Gesicht hat sich mir eingeprägt: 1993 wurde ein Brandanschlag auf das Haus ihrer Familie in Solingen verübt. Zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte wurden getötet. Rechtsradikale hatten das Feuer gelegt.
„Ich trage keinen Hass in mir. Wenn man es genau nimmt, hasse ich genau vier Menschen auf dieser Welt. Nämlich die vier, die mein Haus angezündet haben. Alle anderen Menschen verdienen Respekt und Liebe. Und die bekommen sie von mir. Wir müssen respektvoll miteinander umgehen, sonst macht das doch alles keinen Sinn.“
Schon kurze Zeit nach dem Anschlag redet sie in ihrer großen Trauer und ihrem Schmerz von Versöhnung.
Die Erinnerung, die Wunden und Narben bleiben.
Sie bleibt auch, nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an, weil Deutschland ihr Zuhause ist. Nun hat sie unseren Bundespräsidenten mit gewählt.
„Ich will, dass Gauck von allen respektiert wird, sagt sie und weiter:
Ich erwarte, dass er dem Land zeigt, dass der Wert eines jeden Menschen gleich ist, egal welche Herkunft, Religion oder Bildung er hat. Dass er alle Menschen in Deutschland vertritt. Dass er, und wir alle gemeinsam, unseren Kindern etwas hinterlassen, was Bestand hat. Vielleicht kann er bewirken, dass sich die Menschen wieder näher kommen.“
Keine Unterschiede zwischen den Menschen machen, Versöhnung stiften, zueinander finden – das ist unsere Aufgabe, unsere Zukunft. Nicht vereinheitlichte Lebensweisen und Glaubensformen sind das Ziel, sondern Freiheit zum Glauben, den ich gefunden habe ohne ihn absolut zu setzen, ohne anderen gegenüber Zwang auszuüben; Freiheit, die anderen Glaubenstraditionen, anderen Sprachen der Hoffnung Raum gibt.
Über die Ökumene der Kirchen hinaus gibt es die Ökumene der Religionen:
die Welt als großes Haus, in dem ich das Leben teile mit Menschen, die sind wie ich und zugleich anders als ich. Wir werden zu Geschwistern, wo wir einander Raum lassen, Spielraum geben, uns auseinander- und zusammensetzen, für Gerechtigkeit eintreten und anderen Schutz geben, wo es nötig ist.
In diesem Sinn treffen sich christliche und muslimische Frauen in Kornwestheim seit 10 Jahren zum gemeinsamen Frauenfrühstück. Dazu laden sie auch morgen Vormittag wieder in die Ayasofya-Moschee ein.
Die wöchentlichen Andachten evangelischer bzw. ökumenischer Autorinnen und Autoren unter Angedacht (KWZ) werden zeitnah in diesem Archiv erfasst.
Im Gesamtarchiv finden Sie auch noch die wöchentlichen Andachten aus der Rubrik Zum Sonntag (LKZ).