Andacht- und Predigt Archiv
Zum Sonntag: Jeder stehe an dem Platz wo er gewachsen
Veröffentlicht am Sa, 12.09.2020
von Achim Dürr
Pfarrer, Evang. Kirchengemeinde Remseck - Pfarramt Aldingen Nord - Neckargröningen
Pfarrer, Evang. Kirchengemeinde Remseck - Pfarramt Aldingen Süd
-
Pfarrer, Evang. Kirchenbezirk LB - Bezirksämter
-
„Jeder stehe an dem Platz wo er gewachsen. Und erfülle was ihm obliegt! Also halten wir’s im Wald hier.“ Was hat sich der Unbekannte gedacht, der diesen Spruch vor über 100 Jahren in einen Granitblock gemeißelt hat? Der wilde Schwarzwaldbach bei Schramberg könnte so schön sein, wäre da nicht dieser ärgerliche Satz. Ist das nicht eine Zumutung? Jeder stehe an dem Platz, wo er gewachsen ist? Das macht mich wütend. Damit werden der „Wert“ und die Chancen eines Menschen zementiert. So war das vielleicht vor 100 Jahren. Da war die Gesellschaft fest gefügt. Arbeiter blieben über Generationen hinweg Arbeiter, Bauern blieben Bauern, Frauen hatten ihren Platz am Herd und Männer am Stammtisch. Wer das Glück hatte, in einer reichen und angesehenen Familie aufzuwachsen, hatte sicher kein Problem damit, an dem Platz zu bleiben „wo er gewachsen“. Alle anderen mussten sich halt in ihr Schicksal fügen. Pech!
Aber ist heute alles anders? Klar, die Rollen und Lebensläufe sind in Deutschland nicht mehr so klar vorgezeichnet, wie noch vor 100 Jahren. Und doch entscheidet der Ort, an dem ein Mensch zur Welt kommt oder das Geschlecht oder die finanziellen Möglichkeiten einer Familie auch im Jahr 2020 über das Schicksal eines Menschen. Es war nicht meine Leistung, in einer guten schwäbischen Handwerkerfamilie zur Welt zu kommen. Es war nicht mein Verdienst, in Stuttgart geboren zu sein und nicht in Ghana. Und doch entscheidet dieser „Platz wo er gewachsen“ über mein Leben. Ich hatte Glück, wenn man das so sagen kann. Ich hätte auch als Mädchen im Irak zur Welt kommen können oder als Kriegswaise in Sowjetrussland oder als Kind von Flüchtlingen in einem Boot auf dem Mittelmeer oder in einer Plattenbausiedlung in Bukarest.
Bei Gott gibt es keine Platzkarten! Das christliche Menschenbild lässt es nicht zu, Menschen nach ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer Fähigkeiten zu beurteilen. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Vor Gott sind alle Menschen frei – frei, sich ihren Platz zu suchen.
Zur ÜbersichtDie wöchentlichen Andachten
evangelischer bzw. ökume-
nischer Autorinnen und Autoren (Angedacht KWZ
und Zum Sonntag, LKZ)
werden zeitnah in diesem
Archiv erfasst.