Die Bruchstellen vergolden
Veröffentlicht am Fr, 22.10.2021
Eben noch war unser Leben ganz normal und schon ist es uns entglitten. Ein kleines Virus und nichts scheint mehr übrig von dem, was bisher Normalität war. Ob man das wieder kitten kann?
Nun sind immer mehr Menschen geimpft und Vieles wird wieder möglich, auch wenn unter Auflagen. Wir treffen uns jenseits der Bildschirme und dürfen sogar miteinander singen. Sind unsere Lebensscherben geheilt?
Immer wieder begegnet mich der Vergleich mit „früher“. Die Gastronomie kann nicht ganz hochfahren, weil sich das frühere Personal auf andere Branchen verteilte. Theater- und Opernhäuser klagen über nicht so gut besuchte Veranstaltungen: das Publikum sei noch zögerlich. Und auch in den kirchlichen Kanälen in den sozialen Medien lese ich immer wieder die klagende Frage nach den Gottesdienstbesuchern: vor Corona waren doch so viele da – und jetzt? In Kornwestheim ist es nicht anders. „Wird das Gemeindeleben jemals wieder so werden wie früher?“, fragen wir uns oft.
Das Zauberwort könnte „Kintsugi“ heißen. Das ist eine japanische Reparaturmethode für Keramik und Porzellan. Was zu Bruch ging, wird wieder zusammengeklebt. Es sieht dann nicht mehr so aus wie vorher. Die Risse bleiben sichtbar. Und nicht nur das: sie werden vergoldet. Denn in die Klebemasse wird feinstes Pulvergold eingestreut, so dass die Bruchlinien ein wunderschönes Muster ergeben. Aus den Scherben wird eine Tasse, durch die sich Goldadern ziehen und die dadurch viel „lebendiger“ wirkt als zuvor.
Vielleicht kann Kintsugi ein Hoffnungsbild werden: Es ist eine echte Kunst, mit den Bruchstücken des Lebens umzugehen. Sie fängt damit an, dass wir die Scherben nicht als Müll verloren geben, sondern sie behutsam aufnehmen und sie als Teil eines neuen Ganzen sehen.
Dietrich Bonhoeffer sagt: „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“ In diesem Sinne möchte ich die Verlusterfahrungen der letzten Monate sehen: Sie bleiben sichtbare Bruchstellen und sind als solche Teil des Kunstwerkes, das von dessen Schöpfer geheilt und gehalten wird.
Die wöchentlichen Andachten evangelischer bzw. ökumenischer Autorinnen und Autoren unter Angedacht (KWZ) werden zeitnah in diesem Archiv erfasst.
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