Zu Gast im Grand Hotel
Veröffentlicht am Fr, 17.06.2022
von Martin Mohns
Pfarrer, Evang. Kirchengemeinde Kornwestheim - Pfarramt Thomaskirche
Ich hatte mich im Vorfeld nicht mit dem Hotel befasst und staunte nicht schlecht, als ich davor stand. Ein imposantes, riesiges Bauwerk, das schon allein äußerlich ein Statement war. Es stellte sich heraus: dieses Hotel wurde vor knapp 100 Jahren für die Gäste des legendären Orient Express gebaut. In einer Broschüre über das Hotel fanden sich zahlreiche Namen von Stars und Sternchen und anderen Berühmtheiten, die über die Jahre dort Halt gemacht haben. Aus jeder Pore war spürbar: dieses Hotel ist etwas Besonderes. Etwas ganz Exquisites, das man nicht alle Tage erlebt. Die Broschüre schloss mit dem Fazit: »Von Ihrem Aufenthalt hier werden sie noch Ihren Enkelkindern erzählen.«
Enkelkinder habe ich noch keine, aber immerhin die Leser*innen dieser Zeilen erfahren jetzt schon mal etwas. Tatsächlich hatte ich zuvor noch nie so eine Erfahrung gemacht wie in diesem Hotel. Alles war perfekt. Das Bett sehr bequem, das Badezimmer luxuriös, gediegene Aufenthaltsräume, zuvorkommende Angestellte, sehr gutes Essen – alles war auf allerhöchstem Niveau. Für einen Moment war das auch ganz schön aufregend. Bis ich irgendwann dachte: vielleicht ist es mir hier auch zu perfekt.
Zu perfekt? Kann es das geben? Ist das nicht das Ziel – etwas in Perfektion zu vollenden? Mein Eindruck war: wo es so perfekt zugeht, da ist kein Raum mehr für Fehlerfreundlichkeit. Da wird es sehr schnell sehr technisch und die Seele atmet nicht mehr frei.
Ein anderes Beispiel: vor einigen Jahren waren wir im Libanon. Bei einem Tagesausflug machten wir Halt bei der Familie eines flüchtigen Bekannten meiner Schwägerin. Es war ein sehr einfaches Haus, wir saßen auf dem Boden auf Teppichen in einem Raum, der sonst nichts hatte. Wir wurden Zeug*innen von Gastfreundschaft, die nicht viel hat und doch alles gibt. Alles andere als Perfektion, aber dennoch –oder vielleicht genau deshalb– ein vollkommener Moment. Da, wo wir vollkommen willkommen waren.
Müsste ich mich entscheiden, welche der beiden Gastgeschichten ich später meinen Enkelkindern erzählen werde – ich denke, es wäre die zweite.
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